OSTASIEN Verlag
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Revolutionäre Jugend
 
   
Jiang Wanzhu
 
   
„Guo Shiyings letzte Zeit an der Hochschule für Landwirtschaft“
 
   
(3)
 
   
   

Seitdem sind so viele Jahre vergangen, ich habe auch so viele Jahre geschwiegen. In der letzten Zeit sind immer mehr Erinnerungen an Guo Shiying erschienen; ich glaube, ein Grund dafür ist, dass man heute entdeckt, wie kostbar sein Leben leuchtet. Alles, was ich zu ihm finden konnte, habe ich sorgfältig gelesen, und auch den Prozess um Guo Shiying und den X-Fall[1] habe ich aufmerksam verfolgt. Guo Shiying verdient, dass mit Bewunderung über ihn geschrieben wird. Wenn ich seine Rolle in meinem Leben bedenke, kann ich wohl nicht behaupten, dass er für mich von entscheidender Bedeutung war; aber er ist der Mensch, an den ich mich am liebsten erinnere. Wir hatten nur knapp zwei Jahre lang miteinander zu tun, so viel Zeit ist seitdem vergangen, und doch steht er mir lebendig vor Augen – das zeigt den Zauber, der von seiner Persönlichkeit ausgeht. Dass ich später genetische Forschung betrieben habe, beruht auch mehr oder weniger auf seinem Einfluss. „Unterlass nichts Gutes, weil es doch nur eine Kleinigkeit ist, tu nichts Schlechtes, weil es doch nur eine Kleinigkeit ist“, auch dieses Wort von ihm ist mir zu einem Grundsatz geworden, an den ich mich gehalten habe, um als Mensch durchs Leben zu kommen.

Sein Tod geht mir nicht aus dem Kopf. Die Umstände sind verdächtig. Dass er Selbstmord begangen hat, ist meines Erachtens schlicht unmöglich. Dass man ihm andichten will, er habe „sich dem Urteil des Volkes entziehen“ wollen, macht mich wütend. Unter dem Stahlstempel von Diktatur und Gewalt konnte ich damals nur schweigen. Heute bin ich keine ahnungslose Studentin mehr. Jahrzehnte der Forschungspraxis haben mich gelehrt, logisch zu denken. Ich habe alles, was ich an jenem Tag gehört und gesehen habe, in Betracht gezogen und kühl überlegt und wage festzustellen: Guo Shiying hat sich nicht selbst umgebracht. Er ist umgebracht worden.

Ich schließe das aus Folgendem: In dem Moment, als die Studentin aus der Luftfahrt- (oder Chemie-) Hochschule Guo Shiying hinunterfallen sah, verschwanden zwei menschliche Schatten von dem Fenster im dritten Stock. Dieser Umstand ist außerordentlich wichtig. Denn wenn Guo Shiying sich selbst umgebracht hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder war niemand im Zimmer außer ihm; dann konnte, als er hinuntersprang, niemand am Fenster zu sehen gewesen sein. Wenn dort jemand aufgetaucht ist, müssen es Wachen gewesen sein, die nach dem Sprung entdeckt haben, was geschehen war, zum Fenster gerannt sind und nach unten geschaut haben; das alles mag noch so schnell abgelaufen sein, es muss doch einige Sekunden in Anspruch genommen haben und kann nicht praktisch im gleichen Augenblick vorbei gewesen sein wie der Sturz. Oder es war jemand im Zimmer, und Guo Shiying wollte hinunterspringen; dann müssen die Wachen sofort zum Fenster gerannt sein, um ihn zurückzuziehen, aber ihn nicht mehr haben halten können. Dann müssen sie erregt am Fenster gestanden und hinabgeschaut haben. Auch in diesem Fall hätte die Sache einige Sekunden gedauert; und danach wären sie nach unten gerannt; sie können nicht wie Schatten im Augenblick verschwunden sein, das entspräche nicht dem, was vernünftigerweise zu erwarten war. Demnach ist keiner dieser beiden hypothetischen Fälle möglich, festzustellen ist also: Guo Shiying hat sich nicht selbst umgebracht. Daraus folgt natürlich, dass Guo Shiying von jemandem anders umgebracht worden ist, und zwar von den Personen am Fenster, also von mindestens zwei Menschen; sie haben Guo Shiying zum Fenster gehoben und hinuntergestürzt. Das ist die einzig mögliche Erklärung dafür, dass sie wie Schatten im Augenblick verschwunden sind: sie fürchteten, gesehen zu werden, denn sie waren Mörder!

Überlegen wir weiter, ob Guo Shiying überhaupt zum Fenster hochgeklettert und von dort hinabgesprungen sein kann. Das halte ich für völlig unmöglich. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, das hat nicht nur Lis Mitstudentin gesehen, es wird auch in einer Reihe von Artikeln berichtet. Wie soll jemand, dem die Hände auf dem Rücken gefesselt sind, selbst ein kräftiger Mann, sich zu einer Fensteröffnung hochhieven, die über einen Meter über dem Boden liegt, und dann noch mit den auf dem Rücken gefesselten Händen den Fensterriegel öffnen? Und wo soll er dabei gestanden haben? Ich bin nicht in diesem Zimmer gewesen, aber diese Blocks waren alle nach dem gleichen Muster gebaut; das Fensterbrett war nur ein paar Zentimeter breit, wie hätte er darauf festen Halt gewinnen können? Hinzu kommt: Sein ganzer Körper war eine einzige Wunde. Nach drei Tagen Prügeln und Folter stand er am Rand des Todes. Mehrere Artikel fragen zu Recht: wie sollte er in einem solchen Zustand die Folge schwieriger Bewegungen ausführen, die nötig gewesen wären, um aus dem Fenster herauszukommen? Er war ja kein Übermensch. Ich vermute, dass sie ihn frühmorgens an diesem Tag wieder entsetzlich geprügelt und dabei entweder erschlagen oder doch so sehr geschlagen haben, dass kaum noch Leben in ihm war, und dass sie dann Angst vor den Folgen hatten und ihn deshalb aus dem Fenster gestoßen haben, damit es wie ein Selbstmord aussah, und sie sich so der Verantwortung für ihr Verbrechen entziehen konnten.

Überlegen wir schließlich, was die Gangster eigentlich erreichen wollten, als sie Guo Shiying festhielten. Ihr Vorwand war, es wäre sonst „der Landesverräter zum Feind entkommen“. In Wirklichkeit wollten sie Guo Shiying zum Reden bringen, um an den „Hintermann“ heranzukommen, der ihn „gedeckt“ hatte. Dies Ziel ihrer Verschwörung durften sie nicht nennen; hätten sie aber eine solche Aussage erfoltern können, dann wären entsprechend explosive Nachrichten[2] binnen kurzem im ganzen Land verbreitet worden. Jedoch sind solche Nachrichten dann nicht aufgetaucht. Offensichtlich hat Guo Shiying sie nicht der Aussage gewürdigt, die sie von ihm haben wollten. („Verstockt ist der, nichts sagt er“, flüsterten die zwei im Sanitätsraum, einen Tag vor Guo Shiyings Tod.) Wütend, weil sie ihr Ziel nicht erreichen konnten, haben sie ihn schließlich umgebracht. Heute ist das kaum vorstellbar, aber in jener Zeit, schon gar an dieser Hochschule, einem Winkel, in dem innerhalb nicht einmal eines Jahres über 30 Menschen umgekommen sind, galt ein Menschenleben wenig.

– Das war doch nichts Besonderes, warum hätten sie Guo Shiying nicht totschlagen sollen! -

Zum Schluß will ich ein paar Sätze zu denen sagen, die Guo Shiying umgebracht haben:

Wo seid ihr jetzt? Genießt ihr schon den Ruhestand im Kreise von Kindern und Enkeln? Oder haltet ihr noch die Fahne hoch, betrachtet auf dem Feld oder im Labor durch eine Brille für altersweitsichtige Augen eure neuesten Züchtungen? Ich weiß es nicht; aber jedenfalls habt ihr ja ein friedliches Leben, stimmt’s? Ihr genießt es, stimmt’s? Und böse Träume habt ihr nie gehabt? Kein Fluch hat je euer Gewissen (wenn ihr eins habt) aus seinem Schlummer aufgeschreckt? „Auch wir sind Opfer der Kulturrevolution“, sagt ihr wohl – hört doch auf! Ich kann es nicht mehr hören! All ihr erbärmlichen Verleumder, Prügler, Henker und so fort, die ihr euch nun eurer Verantwortung entziehen wollt, alle verteidigt ihr euch jetzt mit diesem Spruch – es nutzt euch nichts! In der Kulturrevolution waren alle wie ihr? Nein! Ihr wart wirklich nur „eine kleine Handvoll“[3]. Und ihr, diese kleine Handvoll, ihr habt die tausendfach erbärmliche Kehrseite der Zivilisation übernommen. Ihr seid Schatten all der grausamen Büttel über die Jahrhunderte, Schatten der Spitzel, die Wen Yiduo bei seiner letzten Rede belauert haben.[5] Über viele historische Persönlichkeiten ist man sich nicht einig, kann man noch lange diskutieren, lohnt sich zu streiten. Nicht über euch! In jeder Zeit, in jedem Land gehört ihr an die Mauer der Schande. Beidao sagt richtig: „Erbärmlichkeit ist der Pass der Erbärmlichen.“ Weil ihr erbärmlich seid, deshalb habt ihr damals diesen Pass bekommen und seid mit diesem Pass dann überall durchgekommen. Andere hatten kein solches „Privileg“. Nun sagt ihr vielleicht: „Also sind wir erledigt?“ Damals habt ihr andere niedergebrüllt: „Von tausend Füßen in den Boden gestampft, lassen wir euch nie wieder aufstehn!“. Aber diese Zeit ist lang vorbei, auch euch gegenüber ist Milde noch möglich. Konkret: Wenn ihr wirklich bereut, was ihr getan habt, bleibt euch eines: aufzustehen und zerknirscht zu berichten, wie Guo Shiying wirklich zu Tode gekommen ist. Auch wenn ich schon festgestellt habe, dass ihr ihn ermordet habt. Jetzt leitet kein „Chef“ mehr die Untersuchung. (1978, nach Guo Moruos Tod, hat [seine Frau, Guo Shiyings Mutter] Yu Liqun eine Untersuchung der wahren Umstände von Guo Shiyings Tod verlangt. Die Landwirtschaftliche Hochschule bildete daraufhin eine Untersuchungsgruppe. Leiter der Gruppe war der Küchenchef der Mensa, ein politisch verlässlicher Mann, der von Kriminalistik keine Ahnung hatte. Das Ergebnis läßt sich denken.) Vom Gesetz kann euer Verbrechen nicht mehr geahndet werden. Nur das moralische Gericht wird über eure Seelen sein Urteil fällen. Vor diesem Gericht gilt immer noch der sonst längst nicht mehr zeitgemäße Satz „Milde für den Geständigen, Strenge für den, der sich widersetzt“[5]. Habt ihr den Mut zum Geständnis? Ich warte.

Guo Shiying ist gegangen. Sein edles Bild trage ich unauslöschlich im Herzen.

[1]    Zhou Guoping berichtet in seiner Autobiographie, 1963 habe Cao Tianyu, ein Klassenkamerad der vier X-Mitglieder, die X-Gruppe bei der Polizei angezeigt. Cao, der heute in Boston lebt, bestreitet das. Er habe nur Guo Shiyings Eltern informiert, weil er die Aktivitäten der vier als gefährlich für sie selbst angesehen habe. Zhou hielt an seiner Darstellung fest, 2005 klagte Cao in Peking gegen Zhou auf Rücknahme und 500.000 Yuan Schadenersatz, 2006 wurde die Klage abgewiesen. Siehe hierzu: //tieba.baidu.com/f?kz=96335612 (周老师的官司胜了).
[2]    Etwa unter der Schlagzeile: „Geständnis eines Konterrevolutionärs: Zhou Enlai deckte unsere Verschwörung“.
[3]    Unter Mao und insbesondere in der Kulturrevolution ging es ständig gegen diese oder jene „kleine Handvoll“ – von Konterrevolutionären, schwarzen Elementen und sonstigen Individuen, die „von den Massen zerschmettert“ werden sollten.
[4]    In einer Rede am 15.7.1946 (nachgespielt unter: www.tudou.com/ programs/view/-DbVHyV2GK0) protestierte der berühmte Dichter Wen Yiduo gegen den Mord an seinem Freund Li Gongpu, der sich für Frieden im chinesischen Bürgerkrieg eingesetzt hatte: „Ihr wißt, dieser Tage ist in Kunming etwas historisch ganz Erbärmliches, ganz Schändliches geschehen. Welches Verbrechen hat der Verstorbene denn begangen, dass er ermordet wurde? Er hat nur seinen Pinsel genommen und Artikel geschrieben, er hat nur den Mund aufgemacht und geredet, und was er geschrieben und gesagt hat, das war nichts als die Rede eines Chinesen, der sein Gewissen noch nicht verloren hat! Jeder hat einen Pinsel, jeder hat einen Mund, und warum machen wir den Mund auf und reden? Um Tatsachen auszusprechen! Warum muß man da prügeln und morden, und das noch nicht einmal offen und ehrlich, sondern im Geheimen! Als was soll man das bezeichnen? – Sind unter uns heute keine Spitzel? Steht doch auf! Steht auf, wenn ihr Kerle seid! Kommt raus! Warum habt ihr Li Gongpu ermordet? Einen Menschen ermorden und das nicht einmal zugeben, sondern ihn noch verleumden, von irgendwelchen Liebesgeschichten faseln oder von Kommunisten, die Kommunisten ermorden – schamlos! Schamlos! Schamlosigkeit irgendeiner Gruppe, aber Ruhm und Ehre für Li Gongpu!… „ 这几天, 大家晓得, 在昆明出现了历史上最卑劣最无耻的事情! 李先生究竟犯了什么罪, 竟遭此毒手?他只不过用笔写写文章, 用嘴说说话, 而他所写的, 所说的, 都无非是一个没有失掉良心的中国人的话! 大家都有一枝笔, 有一张嘴, 有什么理由拿出来讲啊! 有事实拿出来说啊! 为什么要打要杀, 而且又不敢光明正大的来打来杀, 而偷偷摸摸的来暗杀! 这成什么话? 今天, 这里有没有特务?你站出来! 是好汉的站出来!你出来讲! 凭什么要杀死李先生?杀死了人, 又不敢承认, 还要诬蔑人, 说什么“桃色事件”, 说什么共产党杀共产党, 无耻啊! 无耻啊! 这是某集团的无耻, 恰是李先生的光荣! … (vollständiger Wortlaut in: www. luobinghui.com/ld/wl/200509/5599.html 闻一多先生:最后一次讲演) Auf dem Heimweg nach dieser Rede wurde Wen ebenfalls ermordet, vermutlich von Killern im Auftrag einer Gruppe der damals herrschenden Guomindang. Mutigem Protest dient diese Rede noch heute als Vorbild. Von Hunderten Blogs nach einem neuerlichen Abdruck der Rede im Netz sind nicht wenige bald gelöscht worden, aber noch genug übrig geblieben. In einem heißt es: „Manche Parteigruppen meinen, sie stünden über dem Gesetz und über dem Volk. Welches Recht haben denn Diktatoren? Recht haben sie keins, aber die Macht haben sie! Für manche ist Macht die Vernunft, Gewehre sind das Recht.“ 某些自以为能凌驾于法律、 凌驾于人民之上的党派—独裁者有什么权利?他没权利, 可有权力。 对某些人来说, 权就是理, 枪就是法。
[5]    Ein Grundsatz für „revolutionäre“ Strafverfahren, der Verdächtigte zu Geständnissen veranlassen sollte.

 
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