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Revolutionäre Jugend
 
   
Lao Li
 
   
Erinnerungen an Xiaoyan
 
   
(Teil 1)
 
   

(C1)

Xiaoyan und ich waren nicht lange zusammen, da fingen wir an, uns zu streiten.

Zunächst war sie wegen ihrer Lebensumstände mit mir unzufrieden. Sie war gerade von der Sägeblatt-Fabrik in eine Werkstatt für Kunsthandwerk versetzt worden. Das hatte sie ursprünglich selbst gewollt, und die Stadtkommission hatte ihr, als besondere Gunst, gegen die Regel gestattet, während der Lehrzeit die Stelle zu wechseln. Aber das bereute sie dann: Der Weg zur Arbeit war ihr zu weit, die Werkstatt war eine kollektive Einheit,[1] und vor allem waren die Leute nicht nett. Sie befand: Die Leute in der Werkstatt sind nicht so nett wie die in der Sägeblatt-Fabrik.

Ich bemühte mich, ihr mit aller Geduld, die ich aufbringen konnte, zu erklären, dass solche Arbeitsplätze alle gleich waren, und die Arbeiter dort auch so ziemlich. Aber sie hörte nicht zu, sie blieb missvergnügt, mir wurde es zuviel, und so stritten wir uns. Später habe ich ihr wohl begreiflich gemacht: Der wahre Grund ihrer Unzufriedenheit war nicht, dass sich ihre Lebensumstände geändert hatten, sondern dass sie selbst sich geändert hatte. Sie war erwachsen geworden, sie konnte sich an die Kunsthandwerk-Werkstatt jetzt nicht mehr so leicht gewöhnen wie vorher an die Sägeblatt-Fabrik.

Doch obwohl sie das begriff, konnte sie sich damit nicht abfinden.

Sie ärgerte sich bald wieder über mich. Weil ich meiner Familie nichts von unserem Verhältnis gesagt hatte. Weil ich sie nicht mit meinen Mitschülern bekanntgemacht hatte. Weil ich nicht zusammen mit ihr ihre dritte Tante von Mutters Seite besuchte.

All das hielt ich wirklich für unnötig, gehörte ich doch zur „modernen Jugend “ und beachtete logischerweise überflüssige Formen nicht.

Xiaoyan schrieb ihrer älteren Tante von Mutters Seite in Kanton von unserem Verhältnis, und die schrieb zurück und tadelte sie: Wie könne sie sich nur mit so einem „arbeitslosen Jungen “ einlassen.

Als Xiaoyan diesen Brief erhielt, wurde sie noch trauriger, sprach vom Sterben.

(C2)

Als sie H. zum ersten Mal begegnete, erzählte sie ihr alles, was sie bekümmerte.

Im Freundeskreis war H. keineswegs bei allen beliebt, aber fast alle achteten sie irgendwie, und sie hatte auch wirklich etwas Achtenswertes an sich – und damit meine ich nicht nur ihre Jahre und ihre Erfahrungen.

Sie beruhigte Xiaoyan, und dann hat sie eigens mich aufgesucht. Sie sagte, ich solle meiner Familie Bescheid sagen, ich solle Xiaoyan mit allen meinen Mitschülern bekanntmachen, ich solle mit ihr auch ihre Tante besuchen, und außerdem solle ich noch sonst alles mögliche. Denn, sagte H., Xiaoyan brauche ein normales Leben.

Ich verstand das und versuchte, alles auszuführen.

Als ich meiner Mutter Bescheid sagte, machte sie sich Sorgen, ob es bei Xiaoyan keine psychischen Probleme geben könnte. Aber sie sprach sich nicht gegen unsere Beziehung aus.

Ich begann, Xiaoyan Englisch beizubringen. Sie lernte einige Tage Englisch, dann lernte sie nicht mehr.

Ich lieh ihr Bücher. Sie las ein paar, dann las sie keine mehr.

Wir unternahmen Verschiedenes zusammen, aber es machte uns keinen Spaß.

Ich fand, ich hätte nun alles getan, was ich tun konnte, aber Xiaoyans Stimmung verschlechterte sich immer mehr. Ich verlor die Geduld, und wir stritten uns wieder.

(C3)

Einige Tage Anfang Januar 1973 schien sich ihre Stimmung zu bessern. Am 7. kam sie zu mir ins Haus, und wir verbrachten den Tag miteinander in besserem Einvernehmen als irgendwann zuvor. Nach dem Abendessen brachte ich sie nach Hause, den ganzen Weg redete und lachte sie, bis zur Dingjiakeng.

Als wir uns verabschiedeten, sagte sie, ich solle am nächsten Tag nicht kommen, ich fragte, warum, sie lachte nur und antwortete nicht.

Ich ging heim und machte mein Bett, um schlafen zu gehen. Als ich das Betttuch überzog, fand ich neben dem Kissen ein ordentlich zusammengefaltetes Taschentuch.

Es war das blaßrosa Taschentuch, mit dem sie mir die Wunde an der Hand verbunden hatte. Mir griff es wie ein vager Schatten ans Herz, es war aber im Augenblick verflogen.

Sie mag es versehentlich liegengelassen haben, dachte ich, oder sie schenkt es mir. Ich zog eine Schublade auf und legte es zu mit Glasfaden zusammengebundenen kleinen Blüten. Das waren ganz gewöhnliche Blüten, wie sie bald jedes Mädchen zusammenstellt, um sie jemandem zu schenken oder um sie an einen Schlüssel zu binden. Nur die Farbe war an Xiaoyans Blüten ungewöhnlich. Sie waren schwarz.

An diesem Abend bin ich rasch eingeschlafen.

(C4)

Am nächsten Abend ging ich zu ihr, obgleich sie das nicht gewollt hatte, ohne besonderen Grund, ich wollte sie nur sehen.

Wie ich hereinkam, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Xiaoyan lag in tiefem Schlaf auf dem Bett. Außer Oma Kang und Wu Zhang waren noch zwei Mädchen aus der Nachbarschaft im Zimmer, die gingen, als sie mich hereinkommen sahen.

Oma Kang stotterte, sie habe, als Xiaoyan bis zum Mittag nicht aufgestanden sei, vergebens versucht, sie zu wecken; die alte Frau hatte große Angst bekommen, und sie und Wu Zhang hatten mit der Hilfe einiger Nachbarn Xiaoyan ins Krankenhaus geschafft; die Untersuchung hatte ergeben, dass Xiaoyan irgendein Mittel genommen hatte, aber nach Aussage des Arztes bestand keine Gefahr, sie werde von selbst wieder aufwachen.

Wu Zhang sagte, die Schwester habe nach ihrer Rückkehr gestern abend noch einige Briefe geschrieben und ihn diese einwerfen lassen. Er wusste noch, dass einer an H. war. An wen die andern waren, erinnerte er sich nicht genau.

Ich begriff. Ich sagte Oma Kang und Wu Zhang, ich käme bald zurück, und ging sofort zu H.

Sie hatte noch keinen Brief von Xiaoyan bekommen. Sie sagte, sie werde Xiaoyan am nächsten Tag besuchen.

Ich ging wieder zu Xiaoyan und sagte zu Kang und Wu Zhang, sie sollten sich hinlegen. Ich wachte an Xiaoyans Bett.

Spät nachts war Xiaoyan immer noch nicht aufgewacht. Mein Herz war in Aufruhr. Ich stand am Fenster, sah die in der Ferne flackernden Straßenlaternen und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, zu Haus anzurufen und den Eltern zu sagen, dass ich heute nicht nach Hause kommen würde.

Ich zog eine Schreibtischschublade auf und sah, dass viele Briefe, die dort gelegen hatten, und das Tagebuch, das ich gesehen hatte, nicht mehr in dieser Schublade waren.

Auf einem Sofa verbrachte ich eine schlaflose Nacht.

(C5)

Am Morgen wachte Xiaoyan endlich auf. Zunächst schien sie nicht zu begreifen, was geschehen war. Dann sah sie mich und lachte.

So sanft wie möglich machte ich ihr Vorwürfe, die sie sich anhörte wie ein braves Kind.

Ich sagte zu Oma Kang, sie solle auf Xiaoyan aufpassen, und ging, um Manzi und Jiu zu suchen.

Ich stieß auf sie nicht weit von der Xidan-Kreuzung. Sie schraken zusammen, als sie mich sahen.

Sie hatten am Morgen Xiaoyans Brief bekommen und wollten gerade los – um was zu tun, wussten sie auch nicht recht. Als sie hörten, wie es Xiaoyan ging, waren sie erleichtert. Wir gingen zusammen zu Jiu. Wichtiger, als gleich wieder nach Xiaoyan zu sehen, war mir zunächst, zu besprechen, wie man sie hindern sollte, nochmals diesen Ausweg zu nehmen. Außerdem konnte Xiaoyan vorläufig nicht zur Arbeit. Daher war eine dringende Frage auch, was man der Werkstatt und dem Stadtkomitee sagen sollte.

Vormittags nutzte ich noch einen ruhigen Moment, um daheim anzurufen. Ich sagte, ein Mitschüler sei ins Krankenhaus gekommen, ich müsse mich um ihn kümmern und käme vielleicht mehrere Tage nicht nach Hause.

Nach dem Mittagessen ging ich mit Manzi und Jiu wieder zu Xiaoyan. Sie bemühten sich, Xiaoyan aufzuheitern. Xiaoyan hörte zu und lachte. Es schien, sie dachte nichts weiter.

Am Abend kam H. und sprach lange mit Xiaoyan, um sie zu trösten. Xiaoyan sagte, sie habe alle Briefe, das Tagebuch und auch ein Adressenverzeichnis verbrannt, weil sie befürchtet habe, andere hineinzuziehen.

Im Gespräch mit Xiaoyan hatte H. erfahren, dass ihrem Bruder vor einigen Tagen mehrere zehn Yuan abhandengekommen waren, Geld, das die ältere Tante geschickt hatte. H. schlug vor, bei der Werkstatt und dem Stadtkomitee zu sagen, dass Xiaoyan aus Verzweiflung über diesen Verlust etwas eingenommen hatte. Xiaoyan war einverstanden. Auch mir schien das der beste Weg – wir mussten einen unpolitischen Grund für Xiaoyans Selbstmordversuch finden.

Ich brachte H. hinaus. Sie sagte zu mir, sie vermute, dass das Verschwinden des Geldes mit Kang zu tun habe. Ich hatte Kang nie gemocht und zählte nun ihre vielen schlechten Seiten auf. H. hörte sich das an und meinte dann, man solle den Verdacht gegen Kang nicht nur bei der Werkstatt erwähnen, sondern auch gegenüber Xiaoyan, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie nur deshalb so ein schlechtes Leben habe, weil Kang nichts tauge. Und wir müssten einen Weg finden, Kang loszuwerden. Sei Kang einmal fort, dann könne Xiaoyan Hoffnung auf ein neues Leben fassen und von den Gedanken an Selbstmord loskommen.

Mir schien das vernünftig und durchaus machbar.

(C6)

Am nächsten Tag ließ ich Wu Zhang in Xiaoyans Werkstatt anrufen; ich selbst ging zum Stadtkomitee und suchte dort jemand namens Fan auf, der nach Xiaoyans Angaben für sie und Wu Zhang verantwortlich war.

Am Empfang sagte ich nur, man möge Fan dringend sagen, es sei mit Xiaoyan etwas passiert.

Fan kam rasch, es handelte sich um einen gut vierzigjährigen Soldaten, nicht groß, recht energisch.

Wie wir vereinbart hatten, sagte ich ihm in großen Zügen, dass Xiaoyan ein Mittel genommen hatte, und was dann passiert war, und berichtete den Verlust des Geldes und den Verdacht gegen Kang.

Als ich erwähnte, dass Kang mit Geld von der Behörde angestellt worden sei, unterbrach mich Fan sofort: Damals sei er noch nicht bei der Behörde gewesen.

Nachdem er mich genau befragt und meinen Namen, meine Adresse und Namen und Einheiten meiner Eltern notiert hatte, schüttelte er mir ernst die Hand, dankte mir für meinen Bericht und sagte, in ein, zwei Tagen werde er Xiaoyan aufsuchen.

Zurück bei Xiaoyan berichtete ich, wie mein Besuch bei Fan verlaufen war, und Xiaoyan schien auch etwas Hoffnung zu fassen.

(C7)

In den ersten zwei Tagen besuchten sie alle Xiaoyan, um sie zu trösten und aufzuheitern.

Weil ich zunächst nicht wegkam, bat ich Manzi, bei mir zu Hause vorbeizugehen und meinen Eltern zu berichten, wie es hier stand; sie sollten sich keine Sorgen machen; Manzi sollte mir auch etwas Geld bringen.

Manzi brachte mir nicht nur Geld, sondern auch einen Zettel von meinem Vater und den Brief, den mir Xiaoyan geschrieben hatte. Auf dem Zettel stand, dass sie Xiaoyans Brief in der Eile geöffnet hatten; ich solle gut für Xiaoyan sorgen und möglichst bald heimkommen.

Xiaoyans Brief war sehr lang, in großen Zügen stand darin, sie wolle zu Vater und Mutter gehen, und nachdem sie gegangen sei, solle ich ein gutes Leben führen und von meinen Freunden lernen, was mir fehle; in dem Brief waren auch einige rote Bohnen.

Ich verstand, was sie sagen wollte. Ihre Mutter hatte sie einige Gedichte in alter Form auswendiglernen lassen. Eines hieß „Rote Bohnen “:

Rote Bohnen aus dem Süden senden mit dem Frühling Zweige:

Möchte, dass du davon pflückst – damit denkt man aneinander.[2]

(C8)

Wegen eines Vorfalls in ihrer Familie hatte H. am 10.1 keine Zeit und konnte nicht kommen. Von der Behörde und der Werkstatt war bis dahin auch noch niemand gekommen.

Oma Kang hatte unseren Verdacht gespürt und wurde unruhig, wollte unbedingt mal nach Hause; wir glaubten, dass sie es eilig hatte, das Geld woanders hinzubringen; aber was sollten wir tun, wir konnten nur zusehen, wie sie ging. Sie blieb einen Tag weg und war recht vergnügt, als sie wiederkam; sie hatte für Xiaoyan alles Mögliche zu essen gekauft, und als wir sie fragten, woher sie das Geld hätte, sagte sie, daheim hätten sie ein Schwein verkauft.

Ich beriet mich mit Manzi und Jiu und beschloß, nochmals Fan aufzusuchen.

Diesmal wartete ich am Empfang eine Ewigkeit, bis er endlich ganz gemütlich ankam.

Ich fragte, warum er nicht gekommen sei, er sagte, er warte noch auf Weisung. Zu Kang erklärte er, Kang sei mit unserem Geld angestellt und auch auf Xiaoyans Wunsch; das sei eine Sache zwischen uns und ihr.

Das muß nun auch der Dümmste verstehn, dachte ich: Er will sagen, wenn Kang ein guter Mensch ist, dann haben sie das Geld gegeben, um Kang anzustellen; und wenn sie ein schlechter Mensch ist, dann ist sie auf Xiaoyans eigenen Wunsch angestellt worden.

Ich regte mich auf, er blieb ruhig, kniff die Augen zusammen, betrachtete mich lächelnd und zündete sich eine Zigarette an.

(C9)

An dem Tag, als ich bei Fan war, kam Xiaoyans Fahrrad weg.

Zwei Tage später tauchte Fan endlich auf, zusammen mit einer ganzen Gruppe und einem [Partei]sekretär von der Werkstatt.

Sie waren sehr liebenswürdig und freundlich, sie trösteten Xiaoyan, und sie sagten, die Werkstatt und die Behörde würden die ganzen Kosten für den Transport ins Krankenhaus und die Arzneimittel übernehmen. Dann komplimentierten sie mich höflich hinaus, um mit Xiaoyan und mit Oma Kang jeweils allein zu sprechen.

Als sie weg waren, fragte ich Xiaoyan, was sie gesagt hatten. Sie sagte, sie hätten gefragt, ob ich etwas von ihr verlangt hätte, zum Beispiel für die Zuzugsgenehmigung oder einen Arbeitsplatz.

Haltet mich! Nirgends konnte ich meine Wut loswerden.

An diesem Abend kam es wegen irgendeiner Kleinigkeit zu einem großen Streit zwischen mir und Xiaoyan. Einmal, weil ich wütend war, dann auch, weil ich sah, dass Xiaoyan keine gefährlichen Gedanken mehr hatte, ging ich nach Hause.

Sieben Nächte hatte ich auf diesem Sofa geschlafen.

(C10)

Wenige Tage, nachdem ich wieder zu Haus war, kam eine Vorladung vom Polizeirevier Haidian, es hieß, wegen meiner Anmeldung. Aber als ich dort war, fragten sie mich alles Mögliche; wenn ich nicht zufällig vorher von Nachbarn erfahren hätte, dass sie sich erkundigt hatten, was für ein Fahrrad ich benutzte, hätte mich diese Fragerei völlig durcheinander gebracht.

Sie hatten den Verdacht, dass ich Xiaoyans Geld und ihr Fahrrad gestohlen hatte.

Zweifellos steckte Fan dahinter; kein Wunder, dass er gelächelt hatte, als er mich so betrachtete. Aber wenn ich es mir ruhig überlegte, hätte jeder an seiner Stelle so handeln mögen, er war durchaus nicht besonders bösartig.

Am Tag meiner Vorladung bei der Polizei wurde aber Xiaoyans Fahrrad gefunden, deshalb haben sie mich dann nicht weiter behelligt.

Einige Tage später ging Xiaoyan wieder zur Arbeit.

[1]    D.h. nicht staatlich, mit geringeren Sozialleistungen und niedrigerer Bezahlung.
[2]    红豆生南国, 春来发几枝, 愿 君多采颉, 此 物最相思。 Gedicht von Wang Wei (701–761). Dieser „Rote Bohnen-Strauch “ heißt auch „Vergissmeinnicht-Holz “.

 
—> (D)