OSTASIEN Verlag
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Der Englischlehrer

Roman von Wang Gang

   

Aus dem Chinesischen übersetzt von Ulrich Kautz

Umschlagbild unter Verwendung einer Skizze von Ni Shaofeng 倪少峰

 
   

Reihe Phönixfeder 23
OSTASIEN Verlag
Paperback (21,5 x 12,5 cm), v + 401 Seiten
2014. € 25,80
ISBN-13: ISBN-13: 978-3-940527-78-3 (978-3940527783, 9783940527783) ISBN-10: 3-940527-78-5 (3940527785)
Vertrieb: CHINA Buchservice / Vormerken

 
   

Was ist ein Gentleman? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch diesen wundervoll frischen, aus der Perspektive eines pubertierenden Jungen geschriebenen Roman, dessen Handlung in Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang, angesiedelt ist. Für den Ich-Erzähler Liu Ai verkörpert Wang Yajun, ein eleganter junger Mann aus der Weltstadt Shanghai, der neu an seiner Schule aufgetaucht ist, einen solchen Gentleman; denn dieser erschließt dem aufgeweckten Jungen eine bislang ungekannte Welt der verfeinerten Kultur und der freien Gedanken und wird für ihn zum Symbol all dessen, was er sich für sich selbst erträumt.

Der Englischlehrer ist ein in jeder Hinsicht erstaunlicher, melancholisch-klarsichtiger, durchaus kritischer, aber auch versöhnlich-humorvoller Rückblick des Autors auf seine Kindheit und Jugend in den Jahren der chinesischen „Kulturrevolution“

Der Schriftsteller Wang Gang 王刚, Jahrgang 1960, wuchs in Xinjiang, der Autonomen Region der Uiguren in Nordwestchina, auf. Nach dem Studium betätigte er sich unter anderem als Filmproduzent und Geschäftsmann, ehe er endgültig zum Berufsschriftsteller und Drehbuchautor wurde. Wang lebt heute abwechselnd in Beijing und in Xinjiang. Das Buch (mit dem Originaltitel Yinggelishi 英格力士, erschienen 2004), das von Lesern und Kritikern äußerst positiv aufgenommen wurde, liegt seit 2009 auch in französischer und englischer Übersetzung vor.

Ulrich Kautz, Jahrgang 1939, habilitierter Sinologe mit langjähriger Erfahrung in Praxis und Lehre des Übersetzens und Dolmetschens, übertrug seit 1982 zahlreiche Werke zeitgenössischer Autoren ins Deutsche und gilt heute als einer der profiliertesten Übersetzer chinesischer Belletristik.

 
   
   
Nachwort des Übersetzers  
   

Die alten Lateiner hatten einen Spruch Habent sua fata libelli (auch Bücher haben ihre Schicksale). Ein besonderes „Schicksal“ hat auch dieses Buch:

Ende November 2010, mehrere Monate nach Ablieferung meines Manuskripts, erhielt ich von dem großen deutschen Publikumsverlag, der mir den Auftrag zur Übersetzung von Wang Gangs Roman Yinggelishi erteilt hatte, eine E-Mail, in der es hieß: „Wir haben nach langen Diskussionen beschlossen, den Vertrag für dieses Buch wieder aufzulösen. … Die Gründe liegen … darin, dass die Geschichte, die ja auch eine Liebesgeschichte zwischen Lehrer und Schüler ist, inzwischen hier in Deutschland auf den prekären Boden der diesjährigen Missbrauchsdebatte fallen würde – zumindest kann, wer das will, so etwas hineinlesen. Unsere Geschäftsführung fürchtet, dass schon allein deswegen das Buch entweder ignoriert oder gar kritisiert wird. Ob das so wäre oder nicht, ist schwer zu sagen, aber programmatisch wäre es schon heikel, das nicht mit zu bedenken. Damals, als wir die Rechte eingekauft haben, war das ja noch kein Thema.“

Der „Missbrauchsdebatte“ wird nun heute, im Jahr 2014, in den Medien wesentlich weniger Aufmerksamkeit zuteil als 2010, doch kann man diese Debatte zweifellos keineswegs als abgeschlossen bezeichnen. Dennoch hat sich der OSTASIEN Verlag entschlossen, den Roman jetzt auf Deutsch vorzulegen, und das mit Fug und Recht! Denn selbst wenn man ihn als eine „Liebesgeschichte zwischen Lehrer und Schüler“ interpretierte, könnten ihn wohl höchstens Böswillige in die Nähe all der erschütternden Missbrauchsfälle an deutschen Schulen (und anderswo) rücken, von denen wir in den vergangenen Jahren erfahren mussten.

Wie aber sollten wir Leserinnen und Leser, sollte der Übersetzer, der natürlich auch ein Leser – ein besonders aufmerksamer Leser – ist, Wang Gangs Werk tatsächlich interpretieren? Der Autor selbst hat sich im Oktober 2009 hierzu im Gespräch geäußert (siehe das Interview im Deutsch-Chinesischen Kulturnetz vom Oktober 2009; die Übersetzung von Julia Buddeberg wird hier von mir geringfügig verändert). Wang erklärte der Interviewerin Samantha Kierath, dass der Junge Liu Ai, sein alter ego in dem Roman, das Englische deswegen so sehr geliebt habe, weil es nicht schlechthin eine Sprache für ihn war, sondern „das absolute Gegenteil der Tyrannei und Brutalität, mit denen wir es im täglichen Leben zu tun hatten. Wir konnten damals zwar noch nicht voll begreifen, welche Zivilisation sich hinter der englischen Sprache verbarg, aber die Geschichten in dieser Sprache, die zu einem Teil unserer inneren Welt wurden, beflügelten unsere Phantasie. … Während der Kulturrevolution, während der wir Kinder keine anderen Bücher zu lesen hatten, war das Englisch-Wörterbuch gewissermaßen eine Enzyklopädie, durch deren Wörter und Definitionen wir etwas über die Welt erfuhren.“

Genauso wie mit dem Wörterbuch verhielt es sich auch mit dem Lied Moon River,  das ja in dem Buch für Liu Ai alias Wang Gang eine so große Rolle spielt. „Der Text entführte mich in eine andere Welt, eine Welt jenseits des Tianshan-Gebirges in meiner Heimat Xinjiang, eine Welt ohne die Tyrannei, die in der chinesischen Gesellschaft herrschte. In jenen Zeiten extremer Unterdrückung ließ Moon River mich immer wieder von Freiheit träumen“, sagt Wang. „Durch die englische Sprache lernte ich viel über das Leben, über Dinge, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Das Englische repräsentierte für uns das, was wir ersehnten, aber nicht bekommen konnten, etwa politische Kultur und Demokratie“ oder auch Individualität und Schönheit.

Kein Wunder also, dass der gutaussehende, elegante Mann aus der Weltstadt Shanghai, der den Kindern in ihrem entlegenen Winkel des großen China diese wundersame Sprache Englisch nahe brachte,  von seinen Schülerinnen und Schülern (zumindest von einigen) als Repräsentant jener ersehnten „anderen Welt“ angehimmelt wurde, obwohl er doch keineswegs fehlerlos war. Dass er ein Mensch mit Fehlern war, daran lässt Wang Gang, wenn er seine Geschichte erzählt, keinen Zweifel; der virtuose Wechsel von der „subjektiven“ Perspektive des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen, der er damals war, zu der „objektiven“ Betrachtungsweise des sich erinnernden, mittlerweile nicht mehr jungen Autors macht dies möglich. Und so beschreibt er die Beziehung zwischen Liu Ai und dem Englischlehrer als eine wegen des Altersunterschieds ungewöhnliche, nichtsdestoweniger aber tiefe Freundschaft zwischen zwei Menschen, die in der bleiernen Zeit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ aneinander Halt finden.

Stichwort „Kulturrevolution“: Manche, vor allem ausländische, Kritiker des Buches haben Anstoß an Wangs „beschönigender“ Behandlung dieser Epoche genommen. Er selbst hat sich (unter anderem in dem schon zitierten Interview) zu dieser Kritik geäußert. „Tatsächlich bestand eine der größten Hürden darin, dass mir, als ich an die Kulturrevolution zurückzudenken begann, äußerst brutale und grausame Erlebnisse wieder in den Sinn kamen. Beispielsweise wurde eine Lehrerin … damals von ihren Schülern … tot geprügelt und dann auf die Müllkippe … geworfen. … Auch sah ich jeden Tag ... mit an, wie die Schüler aus der Oberstufe … Jugendlichen aus einer anderen Schule mit Knüppeln die Köpfe einschlugen, bis das Hirn austrat. Oder ich sah, wie die Erwachsenen aus unserem Hofhaus Teer in einem großen Kessel erhitzten und jemanden, den sie aufgegriffen hatten, hineinwarfen. Solche Sachen konnte ich tagtäglich beobachten. … Die größte Schwierigkeit ... ergab sich, als ich mich entschied, nicht über diese Dinge zu schreiben, … (denn ich hatte die Bücher von) Autoren unserer Vätergeneration (gelesen), in denen diese Gewalt und diese Brutalität schon zur Genüge beschrieben wurde... (Diese Bücher) berührten mich gar nicht tief. … Sie hatten nur Grausamkeit zu bieten, nichts darüber hinaus, und da es immer nur um die Verbrechen der anderen ging, blieb das Abgründige wirkungslos.  

Worüber aber sollte ich schreiben, wenn nicht über Gewalt und Brutalität? Das war es, was mir damals Kopfzerbrechen bereitete. Zum Glück habe ich dieses Problem in dem Buch, wie es Ihnen nun vorliegt, gelöst. … Indem ich davon spreche, dass sich die Chinesen gegenseitig abgeschlachtet  haben, und nicht davon, dass die ,Schlechten‘ die ,Guten‘ umbrachten, bringe ich eine Haltung zu dieser Katastrophe zum Ausdruck, die von der älterer Schriftsteller … abweicht. … (Diese) waren zwar einerseits Opfer der Kulturrevolution, zugleich aber hatten sie selbst keineswegs eine weiße Weste.“

Ich meine, gerade durch diesen Verzicht auf Schwarz-Weiß-Malerei ist es Wang in seinem Roman gelungen, uns Menschen aus Fleisch und Blut wirklich nahe zu bringen. Neben dem Englischlehrer wird uns zum Beispiel Liu Ais Vater trotz – und gerade wegen – all seiner Fehler und Schwächen als tragische Figur in Erinnerung bleiben.

Es ist gewiss dieser behutsamen, feinfühligen Charakterzeichnung zu danken, wenn wir ausländischen Leserinnen und Leser feststellen können, dass die Menschen im fernen Xinjiang uns gar nicht so fremd sind, wie man annehmen könnte. Auch anderswo gibt es schließlich sowohl menschenverachtende Machthaber wie den widerlichen Fan und ängstliche Mitläufer wie Liu Ais Eltern einerseits, als auch unangepasste gentlemen wie Wang Yajun und liebeshungrige Teenager wie Liu Ai andererseits.

Stichwort fernes Xinjiang: Der Roman spielt in Urumqi, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets der Uiguren, und wir spüren bei der Lektüre, wie tief verbunden Wang Gang mit seiner Heimat ist, mit der Landschaft, der Kultur, der Musik. Umso erstaunlicher, dass die nationale Minderheit der Uiguren – zur Zeit der Gründung der Volksrepublik China 1949 stellte sie über 90 % der  Bevölkerung, nach der seither intensiv betriebenen Sinisierung von „Ostturkestan“ heute immerhin noch etwa 50 % – bis auf eine Person im Roman überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Und selbst diese eine Protagonistin, die schöne Hadschitai, ist ein Mischling. Erstaunlich ferner, dass die islamische Religion nur ganz kurz und beiläufig erwähnt wird. Dabei weiß jeder Tourist, der die Region bereist hat, wie sehr nicht nur das Stadtbild durch die Moscheen, sondern die gesamte Atmosphäre in Urumqi und ganz Xinjiang durch den Lebensstil der moslemischen Uiguren geprägt ist. Des Rätsels Lösung: Liu Ai alias Wang Gang ist Sprössling einer han-chinesischen Familie, die zugewanderten Han-Chinesen und die einheimischen Uiguren aber sind einander bis heute zumeist fremd geblieben, stehen einander distanziert, teilweise sogar feindselig gegenüber – der perfekte Nährboden für die immer wieder aufflackernden Revolten uigurischer Kämpfer, die die Unabhängigkeit ihrer Region von China fordern.

Freilich hatten zu der Zeit, in der Der Englischlehrer spielt, also während der „Kulturrevolution“, alle Menschen, egal ob Han-Chinesen oder Uiguren, ganz andere Sorgen, erst recht ein pubertierender Teenager wie Liu Ai. Deshalb wäre es wohl unbillig, von dem Autor ein anderes Buch zu erwarten, als das, das er tatsächlich geschrieben hat. Jedoch, wer weiß, vielleicht bringt er uns ja seine geliebte Heimat in einem zukünftigen neuen Roman noch näher. Immerhin lebt er inzwischen nicht mehr ausschließlich in Beijing, sondern verbringt einen Teil des Jahres auf seinem Anwesen in Xinjiang.

Ulrich Kautz
Januar 2014

 
   
   
Leseprobe (S. 56–57)  
   

Der Englischlehrer hatte bemerkt, dass ich wie angewurzelt dastand, und fragte mich lächelnd: „Was gibt’s denn hier so Interessantes zu sehen?“

Mein Blick war an einem kleinen Bücherregal an der Nordwand des Zimmers hängen geblieben. Darin standen ein paar Englisch-Lehrbücher, vor allem aber fesselte mich das dicke, dunkelblaue Buch mit festem Einband, das mir schon einmal aufgefallen war. Ich trat näher, um es genauer zu betrachten.

Wang Yajun hatte offenbar meinen Blick bemerkt, denn er sagte: „Ein dictionary. Kennst du das Wort schon?“

„Ein englisches Wörterbuch?“

Er nickte.

„So groß?“

„Würdest du alle Wörter darin beherrschen, könntest du glatt als ein richtiger Gentleman durchgehen, der in England lebt. Du wärst mit diesem Wissen den gewöhnlichen Leuten dort sogar überlegen.“

„Was ist das, ein Gentleman?“

Er überlegte einen Moment, dann meinte er: „So jemand wie dein Vater.“

Über diese Antwort war ich sehr enttäuscht. So jemand wie mein Vater? Was für ein Mann war denn mein Vater? Ich musste daran denken, dass er eine Brille trug und dass er mir oft furchtsam und verängstigt vorkam. Dennoch fragte ich Wang Yajun: „Sie kennen meinen Vater?“

„Ich habe mir die von ihm entworfenen Gebäude sehr genau angeschaut. Gerade neulich bin ich wieder einmal am Nationalitätentheater vorbeigekommen und habe festgestellt, es ist tatsächlich ein sehr stilvolles Gebäude. Unterhalten habe ich mich auch schon einmal mit ihm, in der Kantine. Anders als die anderen in der Schlange, die schubsten und drängelten, hat er sich ordentlich angestellt, wie es sich gehört.“

Ich hatte angesichts von Wang Yajuns Beschreibung meines Vaters längst die Geduld verloren; von jenem Tag erweckte dieses Wort Gentleman für lange Zeit gar keine positiven Assoziationen in mir. Wozu taugte denn dieses Wort Gentleman, wenn mein Vater als ein solcher bezeichnet wurde?!

Währenddessen redete Wang Yajun weiter, ich aber hörte gar nicht mehr zu, sondern berührte mit zitternden Fingern vorsichtig das kostbare Buch, weil ich Angst hatte, er würde am Ende böse werden wie mein Vater immer, sobald ich es wagte, die kostbaren Bildbände anzurühren, die er sich aus der Sowjetunion mitgebracht hatte.

Der Englischlehrer warf einen Blick auf die Uhr und sagte: „Wir haben noch zwei Minuten. Schau es dir ruhig an.“

Ich nahm das Wörterbuch in die Hand – schwer war es! – und schlug es auf. Es standen sowohl englische als auch chinesische Wörter darin.

„Das ist ein zweisprachiges Wörterbuch“, sagte Wang Yajun.

Ich war so fasziniert von dem dicken Wälzer, dass ich seine Erklärung gar nicht mitbekam.

In diesem Moment klingelte es.

Ich stellte das Buch wieder in das Regal zurück und nahm den Plattenspieler, während er noch schnell zwei Platten heraussuchte.

Dann gingen wir hinaus und ließen den Parfümduft hinter uns zurück.