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Revolutionäre Jugend
 
   
Lao Li
 
   
Erinnerungen an Xiaoyan
 
   
(Teil 2)
 
   

(B1)

G. war mein Klassenkamerad gewesen, über ihn hatte ich Manzi und Jiu kennengelernt. Wir waren damals alle eng befreundet und fast jeden Tag zusammen.

Aber es dauerte nicht lang, da begann er sich bewußt von den anderen fernzuhalten. Nicht nur einmal hat er mir gesagt, er meine, die würden weiter nichts zustandebringen; und er selbst, er wollte etwas leisten. Diese seine Reden haben mich nicht weiter verwundert. Viel früher schon, noch vor der Kulturrevolution, zeigte sich bei ihm, dass er ganz andere Dinge wollte, andere Ambitionen hatte als jedermann. Auch im Charakter und in seinen Interessen ähnelte er uns kaum. Deshalb konnten wir auch verstehen, dass er sich von uns entfernte. Schließlich hat jeder Mensch seine eigenen Ziele, und es ist ganz natürlich, dass jeder seinen Weg geht.

1974 wollte er auf die Universität, aber weil sein Vater noch nicht freigekommen war, ging das noch nicht. Zurück in Peking, begann er, ich weiß nicht wie, wieder mit uns zu verkehren.

Obwohl er und ich Xiaoyan fast gleichzeitig begegnet waren, kannten sie sich bisher kaum. Doch jetzt kamen sie einander sehr rasch näher.

Eines Tages sagte mir G., Xiaoyan und er seien sich gut.

(B2)

G. zögerte aber, konnte sich nicht entscheiden und bat um unsere Meinung.

Manzi war dafür.

Jiu war nicht dafür und auch nicht dagegen.

Ich war dagegen.

Meine Gründe waren einfach. Ich meinte, Xiaoyan zu verstehen und G. auch, und ich meinte, sie beide zusammen, das könne nicht gut enden. Außerdem war bei G.s Eltern auch entschiedener Widerstand zu erwarten, und verglichen mit uns hörte G. noch sehr auf seine Eltern.

Lästig, sagte ich.

G. stimmte mir zu, lästig; aber er und Xiaoyan waren sich weiter gut. Vielleicht dachte er, wenn es auch lästig ist, so ist es doch eine liebenswerte Last; vielleicht dachte er, ebenso wie anfangs ich, auch nicht ernstlich über die Zukunft nach.

Was immer er gedacht haben mag, er zeigte gegenüber Xiaoyan bald so intensive Gefühle, wie ich sie bei ihm zuvor nie gesehen hatte.

(B3)

Nicht lange, nachdem Xiaoyan und G. sich gefunden hatten, kam W., ein früherer Leibwächter ihres Vaters, nach Peking und suchte sie auf. W. arbeitete in einem Krankenhaus in Hubei. Er besuchte Xiaoyan und Wu Zhang im Auftrag ihrer älteren Tante mütterlicherseits in Kanton.

Ob es nun an W.s Kommen lag, oder ob Xiaoyan sich das schon vorher überlegt hatte, jedenfalls schlug sie jetzt W. und gleichzeitig auch dieser Tante vor, sie wolle in W.s Krankenhaus in Hubei arbeiten. Immer noch, wie schon vor gut einem Jahr, hielt sie die Werkstatt für Kunstgewerbe für keinen guten Ort.

Xiaoyan wollte G.s Meinung hören, G. wußte dazu anscheinend nichts zu sagen. Da aber tauchten Schwestern des Vaters auf und stellten sich gegen diesen Plan: Angehörige der Familie Wu gehörten nicht in die Familie Yuan (die Familie von Xiaoyans Mutter).

Ich hörte zum erstenmal von diesen Tanten, und es waren gleich mehrere, eine gar die Frau eines Vizeministers. Als Xiaoyan und ich zusammengewesen waren, hatte sich nicht nur keine von ihnen je gezeigt, Xiaoyan hatte sie auch nie erwähnt. Auf der Seite der Familie Wu wusste ich nur von der angeheirateten Tante in Shanxi; sie war nach Peking gekommen, als Xiaoyan krank wurde, eine Zeitlang geblieben und dann, ich weiß nicht warum, mißvergnügt wieder abgereist… sonst hatte es nur die beiden Tanten aus der Familie Yuan gegeben, die all die Zeit den beiden Geschwistern viel geholfen hatten.

Aber nun traten die Tanten der Familie Wu auf den Plan und machten deutlich, dass man sie nicht ignorieren dürfe. Wu Hans Fall war damals zwar noch nicht abgeschlossen, aber sein Konto, mehrere zehntausend Yuan, war schon zurückgezahlt worden, und eine dieser Tanten war für die Verwaltung dieses Kontos verantwortlich.

Schließlich hatten die Beteiligten – „Familie Wu “, „Familie Yuan “, Xiaoyan, W. und G. – sich auf einen Kompromiss geeinigt: Xiaoyan sollte nach Hunan gehen und sich dort erst mal umsehen, nach ihrer Rückkehr sollte ein Beschluss gefasst werden.

G.s Eltern aber waren nicht unter den „Beteiligten “ und machten nun wegen der Beziehung ihres Sohnes zu Xiaoyan Theater.

(B4)

Xiaoyan war zu G. ins Haus gekommen und hatte seine Eltern direkt gefragt, warum sie gegen ihr Verhältnis mit G. seien. Das war den beiden alten Leuten sehr unangenehm gewesen, gleichzeitig waren sie nun umso entschlossener, G. und Xiaoyan auseinander zu bringen.

Ihre Einstellung, muss man sagen, war durchaus normal. Allen Eltern wird es schwerfallen, eine geisteskranke Schwiegertochter zu akzeptieren. Ob es noch andere Gründe gab, wer weiß das.

Nachdem Xiaoyan nach Hubei gefahren war, kamen G.s Eltern zu mir. Sie verlangten, ich solle ihnen helfen, G. zu bewegen, sogleich nach Shaanxi zurückzufahren, um sich von Xiaoyan loszureißen. Sie kamen zu mir, weil G. ihnen erzählt hatte, dass ich gegen die Verbindung gewesen war. Deswegen sahen die beiden alten Leute in mir einen Verbündeten, zumindest jemand, der bei der Regelung dieser Sache von Nutzen sein würde.

Ich war zwar anfangs dagegen gewesen, hatte aber eigentlich keine feste Meinung dazu. Nur dass G. selbst schwankte, veranlasste mich, den Auftrag seiner Eltern anzunehmen und ihm zuzureden, nach Shaanxi zurückzufahren – natürlich habe ich ihm auf meine Art zugeredet.

Ich sagte zu G.: Ich weiß, dass du Gefühle für Xiaoyan hast, aber ob diese Gefühle schon so stark sind oder noch so stark werden können, dass dir alles andere gleichgültig ist, wirst du selbst am besten wissen. „Alles “, das heißt die Eltern, die Familie, Universität und Zukunft, und so weiter und so fort, und das musst du dir gut überlegen, viel mehr als ich. Du kannst abwägen: Wenn deine Gefühle wirklich so stark sind, dass dir alles andere gleich ist, dann werde nicht nur ich, dann werden dich wohl alle unterstützen. Wenn nicht, dann – ich benutzte ein unschönes Wort – verdufte sofort, nutze, dass Xiaoyan nicht in Peking ist und verdufte heimlich, still und leise nach Shaanxi. Das hat seine Vorteile für dich, für deine Alten und für Xiaoyan.

G. hörte sich das an und schwieg, zündete sich nur eine Zigarette nach der anderen an. Nach längerer Zeit warf er schließlich den Stummel, der ihm schon fast die Finger versengte, fort und sagte: „Ich denke, ich kann ja zunächst mal nach Shaanxi fahren. “

(B5)

G. war gegangen, aber nicht heimlich, still und leise, er hatte Xiaoyan geschrieben, dass er nach Shaanxi zurückfahre.

Als G. fort war, zogen seine Eltern um, weil die neue Wohnung etwas größer war. Ein Grund dürfte natürlich auch gewesen sein, dass Xiaoyan sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr finden würde.

Aber Xiaoyan fand die neue Wohnung ohne Schwierigkeit. Noch am Abend ihrer Rückkehr stellte sie Schnaps und Zigaretten aus Hubei, die sie eigens als Geschenke für G.s Eltern mitgebracht hatte, vor sie auf den Tisch.

Der einzige Trost für die beiden entsetzten Alten war, dass sie dachten, ihr Sohn sei ja fort und Tausende Meilen von diesem übergeschnappten Mädchen entfernt.

Sie ließen sich nicht träumen, dass sich diese Entfernung am nächsten Tag in nichts auflösen würde. G. kam wieder, er sagte, große Schneefälle hätten die Straßen unpassierbar gemacht, er könne nicht zurück.

Fast eine Woche traute er sich nicht zu den Eltern und hielt sich bei Jiu auf. Schließlich ging er doch nach Hause; was dann zwischen ihm und den Eltern gewesen ist, sagte er nicht, und wir wissen es auch nicht.

(B6)

Seine Eltern waren immer heftiger dagegen, und G. war weiter jeden Tag mit Xiaoyan zusammen. Aber jeder außer Xiaoyan sah deutlich, wie widersprüchlich es in ihm zuging, und dass er die fast unvermeidliche Entscheidung vermied, aufschob …

Er hatte seine Gefühle für Xiaoyan und gleichzeitig quälte er sich, ohne es aussprechen zu können

 
   
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