OSTASIEN Verlag
  Kontakt
  Reihen
  Zeitschriften
  Gesamtverzeichnis
  Impressum
   
 
Revolutionäre Jugend
 
   
Lao Li
 
   
Erinnerungen an Xiaoyan
 
   
(Teil 1)
 
   

(B1)

Ich kam nun regelmäßig zu Xiaoyan.

Zu Beginn der Kulturrevolution war Xiaoyans Familie aus ihrem großen Haus an der Beichang-Straße[1] in eine Zweiraumwohnung im vierten Stock in dem Block Dingjiakeng 2 gezogen.

Seit dem Tod der Eltern hatte Xiaoyan den einen Raum, den anderen hatten Wu Zhang und die alte Kinderfrau – Wu Zhang und Xiaoyan nannten sie Oma Kang.

Oma Kang hatte sich um Xiaoyan gekümmert, als sie klein war. Xiaoyan hatte nach dem Tod der Eltern bei der für die Kinder zuständigen Behörde des Stadtkomitees verlangt, dass Kang sich nun wieder um sie kümmern sollte, die Behörde hatte zugestimmt, und das Stadtkomitee bezahlte jetzt Kang – aus dem Geld des Vaters – monatlich 30 Yuan; Wu Zhang bekam 25 Yuan Unterhalt, und Xiaoyan war in der Lehrzeit und hatte einen Lohn von 18 oder 21 Yuan, den das Stadtkomitee auf 25 Yuan aufstockte.

Oma Kang war über 70 und wirkte düster; sie konnte harten Reis kochen und Kohl mit groben Nudeln. Manchmal brachte Xiaoyan auf dem Rückweg von der Arbeit Gemüsebällchen mit, die wurden auch mitgekocht.

Ich war anscheinend der einzige, der sich nicht an dies Essen gewöhnen konnte.

Xiaoyan sagte mir, Oma Kang wisse von vielen sonderbaren Dingen: Lebenden, die sich in Geister verwandelten; Toten, deren Seelen sich zeigten und dergleichen mehr. Xiaoyan gab mir diese Geschichten ganz treuherzig als Tatsachen weiter.

Ich begann zu verstehen, warum sie die Asche der Mutter unbedingt unter dem Buddha-Zeichen beerdigen wollte.

(B2)

Xiaoyan erzählte mir viel von früher.

Bevor sie mich kennengelernt hatte, war sie oft mit P. und ihren Freunden zusammengewesen.

Als sie P. erwähnte, fiel mir ein, wie vor drei Jahren, als Gong Xiaoji und ich bei P. waren, ein kleines Mädchen P. gefragt hatte, ob sie morgen noch zur Schule gehen würde.
„Das war ich, “ sagte Xiaoyan. „ Damals ging da nur ich zur Schule. “

Einmal hatte sie P. in dem Dorf besuchen wollen, in das P. verschickt worden war. Auf halbem Weg war sie abgefangen worden. Weil sie fürchtete, die Leute könnten erfahren, dass sie Wu Hans Tochter war, gab sie einen falschen Namen an, aber als die sie dann bei diesem Namen riefen, hatte sie nicht reagiert.

Zurück in Peking, war sie darum getadelt worden, aber das hatte ihr wirklich nichts weiter ausgemacht.

Einer von P.s Freunden mochte sie sehr, hatte ihr aber ganz ehrlich gesagt, wenn es in ihren Familien Widerstand geben sollte, sei es durchaus möglich, dass er dem Druck nachgeben würde.
„Also hab ich mich nicht mit ihm eingelassen, “ sagte Xiaoyan.

(B3)

Am meisten redete Xiaoyan von ihrer Mama und ihrem Papa.

Nicht lange nach Beginn der Kulturrevolution wurde sie nachts von der Mutter geweckt, die ihr weinend sagte, sie und der Bruder seien nicht als Kinder von Papa und Mama zur Welt gekommen, sondern aus dem Waisenhaus geholt worden. Papa und Mama hätten geglaubt, die Kinder würden es gut bei ihnen haben, und nie gedacht, dass sie ihnen in Wirklichkeit schaden würden. Xiaoyan solle gleich am nächsten Morgen zum Polizeirevier gehen und die Registrierung der Kinder ändern lassen, weil sie nicht Wu Hans eigene Kinder seien.

Xiaoyan, damals nicht einmal 12 Jahre alt, nahm ihren Bruder an der Hand und ging aufs Revier. Dort sah man sich das Haushaltsbuch[2] der Familie an. Dann sagte jemand nur einen Satz: „Seht zu, wie ihr durchkommt! “, und schickte sie fort.

Später wurde die Mutter überprüft[3] und dazu bei einer Behörde festgesetzt. Xiaoyan lief jeden Tag Dutzende Kilometer, um der kranken Mutter eine Spritze zu geben.. Die Mutter behandelte Xiaoyan wie eine Erwachsene und sagte ihr vieles, was sie sonst niemandem sagen konnte. Wenn Xiaoyan wieder ging, schaute ihr die Mutter jedesmal aus dem Fenster ihres Haftraums nach, bis Xiaoyan nicht mehr zu sehen war.

Schließlich wurde die Mutter so krank, dass sie ins Krankenhaus kam. Kurz vor dem Ende hielt Xiaoyan es plötzlich nicht mehr an der Seite der Mutter aus, sie ging vor die Tür, und als sie ans Krankenbett zurückkam, war die Mutter gestorben, der Mund stand ihr offen, und jemand band ihr ein weißes Tuch um den Kopf.

Xiaoyan sagte, Oma Kang habe im Traum mal die Mama gesehen mit einem weißen Tuch um den Kopf.
„Aber sie hat die Mama doch nie so gesehen, wie kann sie das im Traum sehen? “, fragte mich Xiaoyan.

(B4)

Xiaoyan liebte ihren Vater sehr, und als er noch lebte, liebte auch er sie von ganzem Herzen.

Als sie klein war, hat der Papa sie immer, wenn er nach Haus kam, und sie schon schlief, aufgeweckt und geherzt und sich gefreut, wie sie lachte.

Nach Beginn der Kulturrevolution wurde der Vater ständig auf Versammlungen herumgezerrt, „bekämpft “ und geschlagen und musste auf Schlacken knien. Die kleine Xiaoyan hat sich nicht nur einmal vorgedrängt, um den Vater zu schützen, und nicht zulassen wollen, dass er von denen, die ihn von allen Seiten her angriffen, geschlagen wurde. Und tatsächlich haben sie mehrmals, wer weiß ob aus Mitgefühl oder beeindruckt von dem ungewöhnlichen Mut dieses zwölf-, dreizehnjährigen Mädchens, den Vater wirklich nicht geschlagen. Wenn er dann von solchen Versammlungen nach Hause kam, erzählte er glücklich, dass er heute nicht geschlagen worden war, und pries seine Xiaoyan: „Meine Tochter ist doch die Beste! “

Nicht lange, dann kam der Vater ins Gefängnis.

Ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter schickte das Stadtkomitee jemanden nach Xiaoyan und ihrem Bruder. Xiaoyan dachte, ihr Vater käme frei. Den ganzen Weg fragte sie den Mann immer wieder: „Mein Vater wird doch freigelassen? “

Der Mann brachte die Kinder in ein Krankenhaus. In einem Raum dort standen sieben oder acht Leute in Uniform, und deren Anführer sagte ihnen, Wu Han sei gestern abend gestorben, seine Leiche liege nebenan, sie könnten sie sehen. Außerdem sagte er noch, Wu Han sei sehr schlecht gewesen, sie müssten sich klar von ihm lossagen, ansonsten … und so weiter und so fort.

Xiaoyan ist nicht nach nebenan gegangen, um den Vater zu sehen, sie zog ihren Bruder mit sich fort.

So waren die beiden Kinder aus dem Waisenhaus wieder verwaist. Xiaoyan war damals 15, Wu Zhang 11.

(B5)

Xiaoyan weinte nicht, als sie mir diese Dinge erzählte, und schien auch nicht betrübt, aber erregt, sie sprach viel und schnell, als ob sie es eilig hätte, diese Erinnerungen, die ihr seit langem schwer am Grund ihres Herzens lagen, herauszusprudeln; vielleicht erleichterte sie das ein wenig.

Sie hatte ein Heft, in dem sie manchmal, mit Unterbrechungen, etwas Tagebuch schrieb. Zwischen den Zeilen sah ich eine Stimme, die ich nicht gehört hatte.

Nach dem Tod der Mutter war Xiaoyan einmal mit Schulkameraden zur Arbeit auf dem Dorf:
„Heute kam die Post mit Briefen von zuhause für die anderen. Nur ich bekam keinen Brief. Wer könnte mir auch schreiben? Shuangshuang [Wu Zhangs Kindername] ist zu klein; er kann noch keinen Brief schreiben. Ich kann nur ausharren, ausharren… “

Als die Untersuchung des Falls der Mutter abgeschlossen war:
„Heute bin ich zum Babaoshan[4] gefahren und habe Mamas Asche geholt. Ich habe Mamas Urne auf dem Rücken getragen. Als ich klein war, hat die Mama mich oft auf dem Rücken getragen. Jetzt bin ich groß geworden und kann die Mama tragen. Aber ich trage ihre Asche. Ich gehe, gehe, die Urne mit der Asche auf meinem Rücken wird immer schwerer, immer schwerer… “

Selbst in ihrem Tagebuch wagte Xiaoyan nicht, von ihrem Vater zu schreiben.

Sie ließ mich ein Bild sehen, das sie mal gemalt hatte: An einem Fenster stand ein kleines Mädchen mit Schmetterlingen in den Zöpfen, das jemandem auf der Straße vor dem Fenster zuwinkte. Das Bild hieß „Abschied “.

Xiaoyan sagte, das Bild habe ursprünglich „Auf Wiedersehen, Papa “ geheißen. Dann hatte jemand gesagt, das zeige, dass sie sich nicht von ihrem reaktionären Vater losgesagt habe. Deshalb hatte sie den Namen des Bildes geändert.

[1]    Im Stadtzentrum, westlich vom Kaiserpalast.
[2]    Jeder städtische Haushalt hat ein Haushaltsbuch, ein Heft, in dem alle Haushaltsmitglieder und die Art ihrer Beziehungen zueinander verzeichnet sind. Die Mutter muß Xiaoyan dies Heft mitgegeben haben.
[3]    Weil sie gesagt hatte, ihr Mann sei kein Staatsfeind. Die „Behörde” war vermutlich die Arbeitseinheit der Mutter.
[4]    Großer Friedhof, mit Krematorium.

 
—> (C)